Schierke - Hann. Münden

Bergfest! So könnten wir die heutige Etappe auch nennen – schließlich erreichen wir heute das Dach der Tour. 124 km und 1.270 Höhenmeter warten ab Schierke darauf, von uns abgespult zu werden. Sollten wir gar in Wernigerode losfahren, hätten wir heute die unumstrittene Königsetappe mit 140 km und über 1.600 Höhenmetern vor uns.

 Unsere Reise beginnt dabei entlang der Harzer Schmalspurbahn, einem Meterspurigen Eisenbahnnetz mit Endpunkten in Wernigerode, Quedlinburg und Nordhausen. Es stellt das größte zusammenhängende, dampfbetrieben Eisenbahnnetz Europas dar, heute fahren noch mehr als 10 Dampflokomotiven, zusätzlich werden 7 Dieseltriebwagen und 3 Straßenbahnen im regulären Fahrplaneinsatz betrieben. Tatsächlich spielt auch der Pendelverkehr, insbesondere für Schüler noch eine Rolle. Ich stelle es mir gerade vor, wie ich noch mit einer Dampflok zur Schule fahren könnte – da werden doch Kinderträume wahr! Der bekannteste Abschnitt ist dabei die Brockenbahn, die auf den Gipfel des Brockens führt und dabei auf 19 km Strecke mit maximal 33 ‰ fast 600 Höhenmeter überwindet. Bei maximal 40 km/h wird dabei der Gipfel in einem langen Bogen am Ende anderthalbmal umrundet. Nach der Baubewilligung vom 30.05.1896 wurde die Strecke am 4.10.1898 eröffnet. Nach Schließung der innerdeutschen Grenze 1961 wurde der Personenverkehr gestoppt, nach der Wende aber saniert und schließlich am 15.09.1991 wieder freigegeben.

 Ähnlich schnaufend wie die Dampflok werden wir uns den Weg hinauf zum Brocken, dem mit 1.141 m ü.NN höchsten Harzgipfel und gleichzeitig dem höchsten Punkt der Tour, quälen. Weitaus langsamer als die 40 km/h des Dampfrosses werden wir wohl sein, aber hoffentlich dennoch den lohnenswerten Weg nach oben, von Wernigerode immerhin 900 Höhenemeter am Stück, schaffen. Den Brockengarten kann man hier oben besichtigen, und weil sich der Brockengipfel oberhalb der natürlichen Waldgrenze (diese liegt wegen des rauen Klimas und der starken Winde bei ca. 1.100 m) befindet, hat man von dort eine tolle Rundumsicht. So lässt sich nicht nur ein großer Teil der Norddeutschen Tieflandsbucht überblicken, sondern auch der Nationalpark Harz, der mit 246 km² von 230–1.141 m ü.NN reicht und damit der größte Waldnationalpark Deutschlands ist. 96 % der Fläche sind bewaldet, wobei Fichten den Wald mit einem Anteil von 82 % dominieren, gefolgt von Buchen (12 %), der Rest sind Eichen, Ebereschen und Birken. 52 % der Fläche sind als Naturdynamikzone ausgewiesen, d.h. dass der Wald hier komplett sich selbst überlassen wird. Dieser Anteil soll bis 2022 sogar noch auf 75 % steigen. Lediglich 1 % der Fläche sind touristisch gepflegt. Entstanden ist der Nationalpark übrigens erst 2006 durch Fusion des Nationalparks Harz in Niedersachsen und des Nationalparks Hochharz in Sachsen-Anhalt.

 Der Harz zählt zu den wasserreichsten Regionen Deutschlands, so verwundert es nicht, dass auch viele Moore vorhanden sind. Viele schützenswerte Tier- und Pflanzenarten sind hier heimisch, so z. B. die Brockenanemone, auch als Alpen-Kuhschnelle bekannt, eine gelbe Blume, die auf den Hochflächen des Brockens gedeiht und sonst in alpinen Gegenden beheimatet ist. Die Wildkatze hat hier einen Rückzugsort, ebenso wie seit 1978 auch wieder das Auerhuhn und seit 2000 der Luchs. Dennoch gibt es auch hier ökologische Probleme, so unter anderem durch sauren Regen und massenweise Borkenkäfer.

 Nach einer ausgiebigen Rast machen wir uns wieder auf die Abfahrt, wobei wir diese aufgrund der nicht asphaltierten Wege sehr vorsichtig angehen sollten. Später führt uns der Weg durch das romantische Siebertal direkt nach Herzberg am Harz. Die 13.060 Einwohnerstadt liegt direkt am Harzrand auf 240 m ü.NN. 1154 wurde hier das Schloss Herzberg von Heinrich dem Löwen den Welfen geschenkt. Das 1510 neu erbaute Schloss ist heute eines der wenigen Schlüsser in Fachwerkbauweise. 1337 wurde der Ort unterhalt des Schlosses dann zum ersten Mal erwähnt. Durch Tuch- und Leinenproduktion war Herzberg früh ein regionales Zentrum für das Umland. Als 1569 das Brauprivileg erteilt wurde und 1581 das erste Brauhaus eröffnete, war auch das Brauwesen ein wichtiges Auskommen der Bevölkerung. Durch die Wasserkraft des Mühlengrabens konnten Säge-, Papier-, Getreide- und Ölmühlen angetrieben werden. Im 18. / 19. Jh. schließlich war die Waffenproduktion der bedeutendste Wirtschaftszweig und sicherte dem Fürstentum Hannover die Unabhängigkeit von fremden Waffen, die vorher allesamt importiert wurden. Heutzutage ist Herzberg unter anderem bekannt als Esperanto-Stadt, da hier seit vielen Jahren internationale Jugendtreffen, Kongresse und andere Veranstaltungen zu dieser Sprache stattfinden. Im weltoffenen Esperanto-Zentrum waren schon Menschen aus mehr als 50 Ländern zu Gast.

 Wir finden uns hoffentlich auch auf Deutsch in der Stadt zurecht, hauptsächlich um uns auf den weiteren Weg in Richtung Duderstadt zu machen. Auf dem Weg dorthin passieren wir die Rhumequelle, eine Karstquelle südlich des Harzes. Sie ist nach Aachtopf (den wir auf unserer Reise ebenfalls passieren), Blautopf und Paderquelle die viertergiebigste Quelle Deutschlands mit einem Abfluss von ca. 2000 l/s. Das ist genug, um jeden Einwohner Deutschlands täglich mit 2 Litern Wasser zu versorgen. Der Großteil des Wassers kommt hier aus unterirdischen Zuflüssen des Südharzer Gipskarstgebiets, in dem ein Teil des Wassers der Oder und Sieber versickern. An der Rhumequelle tritt es in einem  7 – 8 Meter tiefen Quelltopf mit einer Fläche von 500 m² zu Tage, der quasi als Überlaufventil für einen riesigen unterirdischen Karstwasser-speicher dient. Von der Quelle aus fließt das Wasser als 5 m breite Rhume ab.

 Nach 70 km erreichen wir dann Duderstadt, mit 21.070 Einwohnern auf 170 m ü.NN gelegen. Duderstadt ist bekannt durch sein mittelalterliches Stadtbild mit ca. 600 Bürgerhäusern, wobei der überwiegende Teil Fachwerkbauten sind. Außerdem steht hier eines der ältesten Rathäuser Deutschlands aus dem Jahre 1302, welches zwischen 1982 und 1987 aufwändig restauriert wurde. Von der mittelalterlichen Stadtbefestigung ist noch ein Stadttor erhalten, der Westerturm, der aufgrund eines Konstruktionsfehlers eine markant gedrehte Spitze hat. Dadurch gilt es heute als Wahrzeichen der Stadt. Erstmals erwähnt wurde der Ort 929, 1250 wurde das Stadtrecht erteilt. Da Duderstadt an der Kreuzung zweier Handelswege, nämlich dem zwischen Hanse und Italien sowie zwischen Belgien, Köln und Leipzig lag, blühte die Stadt auf. Zu ihrem Namen kam sie der Legende nach durch folgende Begebenheit:

 Drei Brüder bauten Duderstadt und als sie damit fertig waren, wollten sie der Stadt einen Namen geben. Sie wurden sich aber nicht darüber einig, wer es tun sollte, und so sagte der Erste zum Zweiten: „Gib du der Stadt den Namen“, und der wiederum sagte zum Ersten: „Gib du der Stadt den Namen“, und dieser bat mit den gleichen Worten den Dritten, der gab’s ihm mit denselben Worten zurück. Da nannten sie kurz entschlossen die Stadt Duderstadt.

 Von Duderstadt aus führt unser Weg weiter nach Westen, wo wir den Göttinger Wald südlich umrunden. Der bis zu 428 m ü.NN aufragende Mittelgebirgszug begrenzt den Leinegraben auf Höhe Göttingen nach Osten und ist Teil des Niedersächsischen Berglandes. Er besteht hauptsächlich aus Muschelkalk und ist nur mit einer dünnen Humusschicht überzogen. Da das Gebiet daher nicht sehr fruchtbar ist und kaum Ackerbau stattfindet, ist er stark bewaldet.

 Ganz anders der Leinegraben, eine Niederung im südlichen Niedersachsen und nördlichen Hessen, die 48 km lang und 2–8 km breit ist und von Ahrenshausen bis Einbeck in Nord-Süd-Richtung verläuft. Geologisch zeichnet er sich durch markante Bruchränder aus, daher wird er, wie auch der Oberrheingraben, als Grabenbruch bezeichnet. Durch Lössböden hat sich hier ein sehr fruchtbares Tal entwickelt, in dem wir nach 95 km Göttingen erreichen.

 Göttingen ist vor allem bekannt als Studentenstadt, da 20 % der 118.910 Einwohner Studenten sind. Kein Wunder, ist die Georg-August-Universität auch die älteste und größte Universität Niedersachsens, auf die sogar Bismarck ging. Und nicht nur das, auch 45 Nobelpreisträger kommen hier her, was als Göttinger Nobelpreiswunder bezeichnet wird. Bekanntheit erlangte die Uni aber auch durch die Göttinger Sieben – sieben Professoren die 1837 gegen die Aufhebung der 1833 eingeführten liberalen Verfassung im Königreich Hannover protestierten. Die wurden deshalb entlassen, drei von ihnen sogar des Landes verwiesen. Durch naturwissenschaftlich geprägte Uni entwickelte sich später eine feinmechanische, optische und elektrotechnische Industrie in Göttingen, die mit starkem Bevölkerungswachstum einherging. Der 1. Weltkrieg wurde hier von vielen Professoren begrüßt. Zwischen den Weltkriegen setzte die Uni dann vor allem in Mathe und Physik Maßstäbe, in der NS-Zeit wurde die Wissenschaft wiederum stark eingeschränkt. So wurde fast ein Fünfte der Professoren als Nicht-Arier entlassen. Die Nachfolger der Göttinger Sieben waren 1957 die Göttinger Achtzehn, hochangesehene Atomforscher der Bundesrepublik, die sich in einer gemeinsamen Erklärung gegen die angestrebte Aufrüstung der BRD mit Atomwaffen wandten. Dabei beriefen sie sich auf gemeinsame akademische Anfänge vieler ihrer Mitglieder in Göttingen.

 Die Stadt Göttingen selbst bestand aber bereits seit deutlich längerer Zeit als die Uni, sie wurde im Jahre 953 als Gutingi ersterwähnt. Damals schenkte Kaiser Otto I. dem Kloster St. Moritz Besitz in Gutingi, wo ein Dorf bereits seit dem 7. Jahrhundert vorhanden war. 1230 wurde das Stadtrecht erlangt. Den Status einer Großstadt hat Göttingen seit 1964.

 In Göttingen heißt es dann noch einmal überwinden und auf das Fahrrad steigen. Gut 300 Höhenmeter müssen wir aus dem Leinegraben hinaufstrampeln, um uns dann zu unserem Tagesziel in Hannoversch Münden hinabrollen zu lassen. Hier entsteht die Weser, die wir ja vorgestern früh bei Hameln verlassen haben, als Zusammenfluss von Fulda und Werra. Die historische Altstadt liegt offenbar planmäßig angelegt auf einem Areal von ca. 350 x 450 m im äußersten Mündungsdreieck auf 123 m ü.NN. Die Gründung der Stadt ist nicht genau belegt, da bereits im frühesten urkundlichen Dokument von 1183 als Stadt Münden gesprochen wird, als eine Vorläufersiedlung gilt Gimundi. 1247 wurde Münden mit dem Stapelrecht ausgestattet, welches erst 1824 aufgehoben wurde. Stapelrecht besagt, dass durchziehende Händler all ihre Waren für eine gewisse Zeit ausstellen und den Bürgern zum Kauf anbieten müssen – im Falle von Münden waren dies drei Tage. Dies verhalf der Stadt zu enormem Aufschwung, im 16. Jahrhundert war Münden bis Bremen die wichtigste Handelsstadt für Waren aus Thüringen und von der Nordsee, wie zum Beispiel Färberwaid, Glas, Textilien, Holz, Getreide und Heringe. Da es früher immer wieder Verwechslungen mit Minden und mit München gab und Münden im Königreich Hannover lag, erhielt es den Zusatz Hannoversch, seit 1991 abgekürzt zu Hann. Sehenswert ist hier, ähnlich wie in Duderstadt, der alte Stadtkern mit einer Vielzahl an Fachwerkhäusern.